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Was ist eine Gedächtnis- und Entscheidungshilfe?

Unter einer Gedächtnis- und Entscheidungshilfe (-die deutsche Übersetzung des englischen "cognitive aid"-) versteht man jegliche Art von Hilfsmittel (z.B. Kitteltaschenbücher, Notfallmanuale, Checklisten, Apps, Webseiten, Taschenrechner, etc.), welche das Gedächtnis und die Denkprozesse des Menschen unterstützen. Dieses Unterstützung kann in vielfältiger Form erfolgen, beispielsweise dadurch, dass man an wichtige Dinge erinnert wird, weiterführende Informationen angeboten werden, man bei der Berechnung von Dosierungen unterstützt wird, kritische Fragen gestellt werden usw.  

 

Was spricht für die Verwendung einer Gedächtnis- und Entscheidungshilfe?

Notfallsituationen in der Anästhesiologie stellen an die beteiligten Personen hohe Anforderungen in Bezug auf Entscheiden und Handeln unter Unsicherheit, Dynamik und Zeitdruck. Vital bedrohliche Situationen müssen erkannt, auf ihre pathophysiologische Ursache hin evaluiert und in Kooperation mit anderen Berufsgruppen und Fachdisziplinen zügig therapiert werden. In den vergangenen Jahren ist in akutmedizinischen Disziplinen, allen voran in der Anästhesiologie, das Bewusstsein um die Grenzen menschlicher Kognition in kritischen Situationen gewachsen. Dieser geänderten Sichtweise liegt eine Fülle an wissenschaftlicher Evidenz zugrunde, welche belegt, daß sich unter dem Einfluss von Stress nicht nur die Physiologie des Menschen, sondern auch sein Denken, Fühlen und Verhalten verändern: Unter Stress fokussiert die Wahrnehmung auf ein einmal erkanntes Problem und Veränderungen der Situation oder ein neu auftretendes Probleme werden nicht erkannt. Man spricht auch davon, dass Menschen einen "Tunnelblick" bekommen. Darüber hinaus werden komplexe Probleme (unbewusst) grob vereinfacht um sie besser handhaben zu können. Man hat Schwierigkeiten, sich an selten verwendete Information zu erinnern und insbesondere das Kopfrechnen (Dosierungen von selten verwendeten Medikamenten) wird fehleranfällig. Aber nicht nur das Individuum, auch die Teamarbeit kann unter Stress leiden: Führungspersonen neigen dazu, Situationsanalysen und Diskussionen im Team zu unterlassen und dadurch ihre Entscheidungen auf eine schmalere Informationsbasis zu stellen. Teammitglieder widerum äußern häufig ihre Bedenken und Zweifel nicht mehr und entfallen somit als wertvolles Korrektiv. Diese Auflistung ließe sich sicherlich noch weiter führen; entscheidend hierbei ist, dass Personen unter Stress vor allem Denkanstöße und Informationen 'von außen' helfen, diese Defizite zu überwinden. Diese Anstöße von außen können sowohl von Personen, aber auch von eigens für die Situation konzipierten Gedächtnis und Entscheidungshilfen kommen. Die bekannteste Form dieser Unterstützung 'von außen' dürften Checklisten sein, wie sie sich beispielsweise in der Luftfahrt seit vielen Jahrzehnten etabliert haben. 

 

Patienten sind keine Flugzeuge: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Luftfahrt

Der Hauptgrund dafür, dass Checklisten in der Medizin kaum im Alltag und noch seltener in Notfallsituationen eingesetzt wurden, liegt weniger im Unwillen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen als vielmehr in dem grundlegenden Unterschied zwischen den Systemeigenschaften eines linearen technischen Gerätes und eines nicht-linearen, biologischen Wesens, zwischen ‚komplizierten’ und ‚komplexen’ Systemen. Dies ist in der folgenden Abbildung verdeutlicht:

In einem technischen System wie einem Flugzeug (Linke Seite der Abbildung) sind die Interaktionen der einzelnen Systemkomponenten bekannt, sodass die Entwickler und Ingenieure für jede Störung (angedeutet durch den gerahmten Balken) die Reihenfolge der Handlungsschritte definieren können, welche zu einer 100%igen Problemlösung führt. In der Abbildung ist dies dadurch dargestellt, dass die grüne Fläche den gerahmten Balken vollständig ausfüllt. Die Lösungen werden in Verfahrensanweisungen verbindlich festgelegt und können mittels Checkliste abgearbeitet werden. Ein Beispiel hierfür wäre der Ausfall eines Triebwerks.

Anders hingegen sieht es in einem biologischen System wie beispielsweise dem Menschen aus (Rechte Seite der Abbildung). Hier kann ein und dasselbe Symptom eine Reihe an Ursachen haben, deren Häufigkeiten einer nicht-normalen Verteilung folgen (rote Kurve). Ein Beispiel hierfür wäre der plötzliche Sättigungsabfalls. Für diese pathophysiologische Störung kann ein Erwartungshorizont an Ursachen und den resultierenden Maßnahmen definiert werden, die bei der Mehrheit der Patienten (i.e. der „Durchschnittspatient“) zu einer Problemlösung führt (grüne Fläche). Dieser Erwartungshorizont ist variabler als der Lösungsbereich für ein technisches Problem und erfaßt nicht alle denkbaren Möglichkeiten. Für das therapeutische Vorgehen innerhalb dieses Erwartungshorizonts können Empfehlungen oder ‚Leit-Linien’ vorgegeben werden. Jedoch sind sowohl für deren Anwendung als auch für Patienten außerhalb des Erwartungshorizontes klinische Erfahrung und Expertise notwendig. Somit ist für Notfälle in der Medizin weder eine verbindliche Vorgabe einer einzigen Lösung noch die Behandlung mittels linearer Checkliste möglich. 

 

Wie kann eine Gedächtnis- und Entscheidungshilfen im Notfall helfen?

Obwohl weder die Angabe einer Lösung noch eine Behandlung mittels Checkliste möglich sind, kann der Behandler dennoch unterstützt werden, indem er Anregungen zu möglichen Ursachen erhält, sollte er mit seinen eigenen Ideen nicht zu einer Problemlösung kommen. Sofern Therapievorschläge sich an aktuellen Empfehlungen und Leitlinien orientieren kann zudem sichergestellt werden, dass die Behandlung dem gegenwärtigen medizinischen Stand entspricht. 

 

Wie soll man eGENA anwenden?

Da sich der Einsatz von Gedächtnis- und Entscheidungshilfen im anästhesiologischen Notfallmanagement noch nicht etabliert hat, wissen wir letztlich nicht, welche Vorgehensweise die sichere Patientenversorgung unterstützen kann, ohne gleichzeitig als umständlich und hinderlich erlebt zu werden. Von Erfahrungen aus anderen Hochrisikobranchen wissen wir, dass auch dort bei Notfällen mit hohem Zeitdruck die ersten Handlungsschritte aus dem Gedächtnis abgearbeitet werden ('memory items') und im Anschluss im Team anhand der korrespondierenden Notfallcheckliste auf ihre Vollständigkeit überprüft werden. Bei Notfällen mit geringerem Zeitdruck und bei besonders kritischen Konfigurationsschritten werden die Punkte der Checkliste von einem Teammitglied vorgelesen und von dem anderen Teammitglied durchgeführt und verbal bestätigt. In beiden Fällen "verbindet" die Checkliste die Teammitglieder zu einem gemeinsamen Handeln.

Für die Anästhesiologie wäre denkbar, die bisherige Art der Notfallversorgung dahingehend zu erweitern, dass ein Teammitglied (z.B. Assistenzarzt, Pflegekraft) damit beauftragt wird, eGENA aufzurufen und die einzelnen Handlungsschritte mit dem Team abzugleichen. Wann der geeignete Zeitpunkt für diesen Schritt gegeben ist, kann im Augenblick nicht gesagt werden.

eGENA wird vermutlich häufig dann eingesetzt werden, wenn es sich um einen seltenen Notfall handelt oder Unklarheiten diagnostischer oder therapeutischer Art bestehen. Der entscheidende Schritt für die nachhaltige Implementierung von eGENA wird jedoch darin bestehen, auch sicher Gewußtes anhand einer externen Hilfe nochmals zu kontrollieren.

 

Was macht eGENA so besonders?

eGENA ist keine eigenständige Software, sondern eine Progressive-Web-App (PWA). PWA sind Webanwendungen, die im Browser ausgeführt werden und in der Lage sind, über den Browser-Cache und Speichermöglichkeiten im Browser alle notwendigen Daten im Offlinemodus darzustellen. Da eGENA als Webanwendungen unter Umgehung der App-Stores der verschiedenen Betriebssysteme (Android, iOS) direkt auf dem Home-Bildschirm installiert werden kann, ist die Funktionsfähigkeit von eGENA unabhängig von der aktuellen Version des jeweiligen Betriebssystems. Relevant ist lediglich die Installation eines Browsers, der die Funktionalitäten einer Progressive-Web-App unterstützt. Für die Entwicklung einer digitalen Gedächtnis- und Entscheidungshilfe sprachen aus Sicht des BDA vor allem die erweiterten Funktionalitäten der

  • ständigen offline-Verfügbarkeit auf jedem Endgerät
  • Interaktivität
  • erweiterten Suchfunktionen
  • Möglichkeit für Kliniken und Abteilungen relevante Informationen zu editieren und an die lokalen Verhältnisse zu adaptieren
  • leichten Aktualisierbarkeit der medizinischen Inhalte bei Änderungen der Leitlinienempfehlungen