Übersichten | Review Articles
Klinische Anästhesie | Clinical Anaesthesia
K. Hoppe · R. Plunien · F. Lehmann-Horn · K. Jurkat-Rott · M. Gösele · W. Klingler (Mitochondriopathien) · J. Stelzner · T. Terboven (Morbus Hurler)

OrphanAnesthesia – Handlungsempfehlungen zur Anästhesie bei • Mitochondriopathien • Morbus Hurler

Schlüsselwörter OrphanAnesthesia – Handlungsempfehlungen – Seltene Erkrankungen – Mitochondriopathien – Morbus Hurler
Keywords OrphanAnesthesia – Recommendations – Rare Diseases – Mitochondrial cytopathy – Hurler syndrome
Zusammenfassung

Mitochondriopathien

Während Mitochondrien eine Vielzahl an Stoffwechselwegen beherbergen, unter anderem den Tricarbonsäure-Zyklus, Harnstoffzyklus sowie Fettsäureabbau durch b-Oxidation, umfasst ihre Hauptaufgabe die Produktion von Adenosintriphosphat durch aerobe Atmung.

Mitochondriopathien sind eine genetisch und phänotypisch heterogene Gruppe mit einer Häufigkeit von 1:4.000. Dabei kann es zu Störungen einer der 13 durch mitochondriale DNA kodierten Protein-Untereinheiten der Atmungskettenkomplexe I, III, IV und V, der 22 tRNA und zwei rRNA (mitochondrial kodierte Mitochondriopathie) oder einer der ca. 1.000 im Zellkern kodierten Proteine, die für die mitochondriale Struktur und Funktion wichtig sind, kommen.

Mitochondrial kodierte Mitochondriopathien werden mütterlich vererbt, während zellkernkodierte Typen nach den klassischen Mendelschen Regeln vererbt werden (X-chromosomal rezessiver, autosomal rezessiver oder autosomal dominanter Erbgang). Die schwersten hereditären Mitochondriopathien, von denen viele letal sind, manifestieren sich bereits im Säuglingsalter klinisch. Auch ein späteres Auftreten im jungen Erwachsenenalter ist beschrieben worden. Im Falle der durch mitochondriale DNA kodierten Störungen bestehen mutierte und normale mitochondriale DNA nebeneinander. Der Begriff „Heteroplasmie“ beschreibt die zufällig auftretenden Unterschiede im Verhältnis von mutierter zu normaler DNA im Zielgewebe während der Embryogenese und erklärt teilweise die erhebliche Variabilität der klinischen Manifestationen.

Üblicherweise sind Mitochondriopathien systemübergreifende Erkrankungen, wenngleich Manifestationen in Bezug auf ein einzelnes Organ oder spezifische Symptome überwiegen können. Betroffen sind typischerweise Organe mit hohem Energieumsatz, wie z. B. das zentrale Nervensystem, Muskeln, Herz, Leber und Nieren. Eine gestörte renale Bioenergetik führt zur tubulären Azidose und zu Anomalitäten der Skelettmuskulatur, die sich überwiegend in einer Dystonie äußern. Dysphagie, Pseudoobstruktion und Obstipation deuten auf eine gastrointestinale Beteiligung hin. Das Sehvermögen und das Gehör können eingeschränkt sein. Die Beteiligung endokriner Organe, die zu Diabetes mellitus, Hypoparathyreoidismus, Hypothyreose und Versagen der Gonaden führt, ist beschrieben worden. Im Zusammenhang mit der myoklonischen Epilepsie mit zerlumpten roten Fasern (MERRF) kommt es zu Krampfanfällen und Ataxie. Enzephalopathie ist ein Symptom des Leigh-Syndroms, das mit nekrotisierenden Läsionen im Hirn, insbesondere im Mittelhirn und Hirnstamm, eine kennzeichnende Pathologie aufweist. Klinisch definiert sich das Syndrom, das sich überwiegend im ersten Lebensjahr manifestiert, durch Dysphagie, epileptische Anfälle, Muskelhypotonie, Dystonie, Ataxie, Ophthalmoparese, Kardiomyopathie und schließlich respiratorisches Versagen. Demenz und schlaganfallartige Symptome sind wesentliche Merkmale der mitochon-drialen Enzephalopathie mit Laktazidose und schlaganfallartigen Episoden (MELAS). Zudem ist auch das periphere Nervensystem betroffen, sodass es zur sensorischen axonalen Neuropathie kommt. Im Rahmen kardialer Mani-festation kommt es u. a. zur hypertrophen Kardiomyopathie (im Rahmen der MELAS und des Leigh-Syndroms) oder Blockbildern, dilatativer Kardiomyopathie und Präexzitationssyndromen.

Im Erwachsenenalter auftretende Formen bieten anfangs typischerweise progressive Schwäche und Belastungsintoleranz der Haltungsmuskulatur, sensorineuralen Hörverlust, Ptosis, Ophthalmoparese, Versagen der Farb- oder Nachtsicht sowie zunehmende Ataxie. Leberinsuffizienz und Nierenbeteiligung sind typische Komponenten des De-Toni-Debré-Fanconi-Syndroms (überwiegend bei Kindern).

 

Morbus Hurler

Der Morbus Hurler ist eine seltene lysosomale Speicherkrankheit, die in die Gruppe der Mukopolysaccharidosen Typ I (MPS I) mit autosomal-rezessivem Erbgang einzuordnen ist. Es werden drei Phänotypen von zunehmendem Schweregrad unterschieden: Das Scheie-Syndrom als mildeste, das Hurler-Scheie-Syndrom (MPS I-HS) als intermediäre und das Hurler-Syndrom (MPS I-H) als schwerste Verlaufsform. Der genetische Defekt bei Patienten mit einem Hurler-Syndrom führt zu einem kompletten Fehlen der a-L-Iduronidase-Aktivität. Dies resultiert in einer zunehmenden Akkumulation von Glykosaminoglykanen und einer dadurch bedingten Multiorgandysfunktion. Die Prävalenz
des Hurler-Syndroms wird auf 0,7 – 1,6 / 100.000 geschätzt.

Patienten mit MPS I-H zeigen progressive kognitive Einschränkungen und somatische Störungen. Die auftretenden Abnormitäten des Skeletts (HWS-Instabilität, reduzierte Gelenkbeweglichkeit, eingeschränkte Mobilität, Wachstumsverzögerung oder Wachstumsstopp in der Kindheit, typische faziale Dysmorphien mit kurzem und bewegungslimitiertem Hals) werden zusammenfassend als Dysostosis multiplex bezeichnet. Weitere Zeichen und Symptome beinhalten kardiale Erkrankungen (Kardiomyopathien, Klappendysfunktionen), restriktive Lungenerkrankungen, häufige respiratorische Infekte, verschiedene Typen von Hernien, kommunizierende Hydrozephali, Rückenmarkskompressionen, Trübungen der Cornea, Hörverlust sowie alle Arten von Organomegalien. Eine Atemwegsobstruktion kann aufgrund der Hypertrophie des Weichteilgewebes auf allen Ebenen (choanale Enge, adenotonsilläre Hypertrophie, Makroglossie, verdickte pharyngeale und laryngeale Strukturen, subglottische Stenosen und Tracheobronchomalazien) auftreten. Diese Veränderungen resul-tieren häufig in schwerwiegenden obstruktiven Schlafstörungen (OSAS). Dysplasien des Dens und deutlich bewegungseingeschränkte Kiefergelenke mit reduzierter Mundöffnung können ebenfalls auftreten. 

Die Lebenserwartung für das unbehandelte Hurler-Syndrom liegt gewöhnlich unter zehn Jahren. Obwohl eine hämatopoetische Stammzelltransplantation mit schwerwiegenden Risiken verbunden ist, stellt sie die einzige therapeutische Option dar, die die intellektuelle Entwicklung ermöglicht und die kardiopulmonale Funktion verbessert. Hierzu sollte sie vor Vollendung des zweiten Lebensjahres durchgeführt werden. Die Veränderungen des Skeletts zeigen hierdurch jedoch keine Verbesserung.

Seit Mitte 2013 steht mit Laronidase ein Medikament zur Enzym-Substitutions-Therapie zur Verfügung. Es wird einmal pro Woche verabreicht und führt zur Verbesserung der Lungenfunktion und der Gelenkbeweglichkeit. Die neuropsychologischen Manifestationen der Erkrankung werden hierdurch nicht beeinflusst.

 

Summary

Mitochondriopathien

Although the mitochondria host several metabolic pathways including the tricarboxylic acid cycle, urea cycle, b-fatty acid oxidation, their primary function involves the generation of adenosine triphosphate via aerobic respiration.

Mitochondrial disorders are genetically and phenotypically a heterogeneous group with an estimated incidence of one in 4,000. Genetically, one of the 13 protein subunits of the respiratory chain complexes I, III, IV and V, one of the 22 tRNAs or the two rRNAs (mitochondrial-encoded mitochondriopathy) or one of the approximately 1,000 nuclear-enco-ded proteins, which are important to mitochondrial structure and function, are impaired.

Mitochondrial-encoded mitochondriopathies are inherited maternally, while nuclear-encoded types are inherited with classical Mendelian genetics (X-linked recessive, autosomal recessive or autosomal dominant). The most severe, inherited mitochondrial disorders, many of them lethal, become clinically apparent during infancy. Later appearance in early adulthood has been described. In mitochondrial DNA-encoded disorders, normal and mutant mitochondrial DNA coexist. ”Heteroplasmy“ refers to the random differences in the ratio of mutant to normal mitochondrial DNA present in the target tissue during embryogenesis, which partially explains the marked variability in clinical manifestations. 

Usually mitochondriopathies are multi-systemic diseases, although single-organ manifestations or specific symptoms may prevail. Organs with a high-energy turnover like the central nervous system, muscle, heart, liver and kidney are typically affected. Impaired renal bioenergetics produce tubular acidosis, and skeletal muscle abnormalities, which present largely as dystonia. Dysphagia, pseudo-obstruction and constipation suggest gastrointestinal involvement. Vision and hearing may be reduced. Endocrine organ involvement resulting in diabetes mellitus, hypoparathyroidism, hypothyroidism and gonadal failure has also been described. Seizures and ataxia are associated with myoclonic epilepsy with ragged-red fibres (MERRF), and encephalopathy is a symptom of Leigh syndrome. Necrotising lesions within the brain, particularly in the midbrain and the brainstem, are typical pathological signs of Leigh syndrome. This syndrome, which typically begins within the first year of life, is clinically characterised by dysphagia, epileptic seizures, muscle hypotonia, dystonia, ataxia, ophthalmoparesis, cardiomyopathy and finally respiratory failure. Dementia and stroke-like symptoms are major features of the mitochondrial encephalomyopathy with lactic acidosis and stroke-like episodes (MELAS). Furthermore, the peripheral nervous system is affected, causing axonal sensory neuropathy. Cardiac involvement includes hypertrophic cardiomyopathy (seen in MELAS and Leigh syndrome) or heart block, dilated cardiomyopathy and pre-excitation syndrome. 

Initial symptoms of adult-onset forms are typically progressive postural muscle weakness / exercise intolerance, sensory-neural hearing loss, ptosis, ophthalmoparesis, failing colour or night vision, and worsening ataxia. Hepatic insufficiency and renal involvement are common components of Toni-Debre-Fanconi syndrome (primarily in children).

 

Morbus Hurler

Hurler syndrome is a rare lysosomal storage disease belonging to the group of mucopolysaccharidoses type I (MPS I) with an autosomal recessive transmission. MPS I is subdivided into three phenotypes of increasing severity: Scheie syndrome being the mildest, Hurler-Scheie syndrome (MPS I-HS) intermediate and Hurler syndrome (MPS I-H) the most severe. The genetic defect in MPS I-H results in a complete deficiency of the enzyme a-L-iduronidase. This leads to progressive accumulation of gly-cosaminoglycans causing multi-organ dysfunction. The prevalence of MPS I-H is estimated at 0.7-1.6 / 100,000.

Patients presenting with MPS I-H have progressive cognitive impairment and somatic disorders. The skeletal abnor-malities (cervical spine instability, loss of joint range of motion, restricted mobility, growth slowing or arresting in childhood, short stature, typical facial features with a short and stiff neck) seen in these patients are collectively referred to as dysostosis multiplex. Other signs and symptoms include cardiac disease (cardiomyopathies, valvular dysfunction), restrictive lung disease, frequent and recurrent respiratory infections, different types of hernias, communicating hydrocephalus, compression of the spinal cord, corneal clouding, loss of hearing and all types of organomegaly. The airway is obstructed at all levels due to hypertrophy of the soft tissue with narrowed nasal passage, adenotonsillar hypertrophy, macroglossia and thickened laryngeal and pharyngeal structures, subglottic narrowing and tracheobronchomalacia. These pathologies often result in severe obstructive sleep apnoea (OSA). There might also be odontoid dysplasia and stiff temporomandibular joint with reduced mouth opening. 

Life expectancy for untreated MPS I-H is usually under 10 years. Although haematopoietic stem cell transplantation is associated with several risks, it is the only therapeutic option to preserve intellectual development and also improves cardiac and respiratory function and the problems of airway obstruction. It has to be performed before the age of 2 years. Skeletal abnormalities show no improvement.

The enzyme substitute (laronidase) ob-tained EU marketing authorisation as an orphan drug in 2003. Given through weekly infusions, it leads to improvement of lung function and joint mobility. However, the neuropsychological manifestations are not influenced by enzyme replacement therapy.

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